Stuttgart 21 - Schlichtung oder Mediation?
Rückblick auf den Stuttgarter Konfliktlösungsversuch
Häufig werde ich gefragt, worin der Unterschied zwischen Schlichtung und Mediation besteht. Beide Verfahren - Mediation und Schlichtung - sind Methoden zur Konfliktbeilegung in Fällen, wo Menschen oder Institutionen einen Konflikt miteinander haben, den sie nicht selbst lösen können. Den Begriff Mediation gibt es bei uns ja noch nicht so lange und viele kennen ihn noch nicht so recht. Das Verfahren Schlichtung ist dagegen viel bekannter, z.B. aus den Tarifverhandlungen mit Arbeitgebern und Gewerkschaften oder aus dem Handwerksbereich. Der Vermittlungsversuch 2010 für das Projekt Stuttgart 21 wird meist als Schlichtung, aber manchmal auch als Mediation bezeichnet. Bei diesem Projekt geht es um die Verlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofs unter die Erde und eine neue Anbindung an die Bahnstrecke Stuttgart-Ulm bzw. an den Stuttgarter Flughafen.
Bei einer Schlichtung wird ein neutraler Dritter beauftragt, die Positionen anzuschauen und die Diskussion zu leiten. Am Ende macht er einen Vorschlag zur Lösung des Konflikts, meist ein Kompromiss zwischen den Standpunkten. Sie entscheiden nun, ob sie den Vorschlag annehmen. Wenn nicht, geht es in eine neue Runde oder die Schlichtung ist gescheitert. Ein Schlichter arbeitet vor allem auf der Sachebene.
Auch bei einer Mediation leitet der Mediator das Gespräch und sorgt für gute Kommunikation, aber im Unterschied zur Schlichtung geht es bei einer Mediation meist auch um die Emotionen, die zwischenmenschlichen Beziehungen. Der Mediator kümmert sich zuerst um die oft unsichtbaren Hintergründe und Bedürfnisse, die zu den Forderungen führen. Es geht v.a. darum, dass gegenseitiges Verständnis entsteht. Ehrliches Sich-Öffnen und Vertraulichkeit sind für den Erfolg sehr wichtig. Der Mediator bewertet keine Standpunkte und wenn es dann um die Lösungssuche geht, nimmt er sich so weit wie möglich zurück und bringt in der Regel keine eigenen Vorschläge ein, um die Nachhaltigkeit der Beschlüsse zu stärken. Die Lösung muss kein Kompromiss sein, sondern kann ganz neue kreative Aspekte enthalten. Ein Mediator benötigt für all dies auch eine fundierte Ausbildung, was inzwischen auch gesetzlich geregelt ist.
Stuttgart 21 - Versuch einer Schlichtung
Um es gleich vorweg zu nehmen: Der Vermittlungsversuch um Stuttgart 21, der 2010 öffentlich durchgeführt und im Fernsehen übertragen wurde, war tatsächlich eine Schlichtung und sicher keine Mediation. Sie lief auf der reinen, hochkomplexen Sachebene, war nicht vertraulich und der Schlichter Heiner Geißler hatte meines Wissens eine juristische Ausbildung und Erfahrung in Tarifschlichtungen, aber keine Mediationsausbildung. Die wichtigsten Ziele einer Mediation, nämlich das Entstehen von gegenseitigem Verständnis und das ehrliche Sich-Öffnen waren bei diesem Verfahren praktisch von vornherein ausgeschlossen.
Es gab im Wesentlichen zwei große Parteien: auf der einen Seite die Befürworter und Betreiber des Projekts, die sich aus Vertretern der Deutschen Bahn und der Politik zusammensetzte, auf der anderen Seite Gegner, die sich aus Vertretern mehrerer Gruppierungen von Umweltverbänden und Politik zusammensetzte. Flankiert wurden die Parteien durch verschiedene Gutachter und Fachleute. Die Sachthemen waren u.a. die Leistungsfähigkeit des neuen Stuttgarter Bahnhofs, Kosten, Zeitbedarf und die Risiken für die Tunnel im Anhydridgestein, den Brandschutz und die Stuttgarter Mineralquellen.
Das Ergebnis war politisch schon vorgegeben
Das Verfahren hatte das Problem, dass alle Sachthemen bereits durch die Politik unverrückbar vorgegeben waren: die Leistung des neuen Stuttgarter Hauptbahnhofs musste größer sein als bisher, die Anzahl der Gleise und die Kosten auf 4,1 Milliarden Euro begrenzt, die Fertigstellung auf Ende 2019 fixiert. Die Kontra-Seite stellte alle diese Prognosen infrage, worauf beidseitig Gutachten auf Gutachten folgte. Fast jede Entgegnung der Kontra-Seite zu einzelnen Punkten traf stets auf ein „Es-ist-doch-so-wie-wir-sagen“. Eine ehrliche Diskussion, ein Aufeinanderzugehen war durch politische Vorgaben ausgeschlossen, denn eine wesentliche Kostenerhöhung oder mangelnde Leistungsfähigkeit hätte zum Stopp des ganzen Projekts Stuttgart 21 geführt, was nicht sein durfte. Daher war diese Schlichtung von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil die Teilnehmer gar nicht eigenständig arbeiten und entscheiden durften, sondern sich zwingend an die Vorgaben halten mussten.
Am Ende musste der Schlichter noch einen Lösungsvorschlag machen. Demnach sollte der Nahverkehr in die Stuttgarter Region als Entlastung für den Tiefbahnhof weiterhin oberirdisch laufen. Dies wurde von der Pro-Seite selbstverständlich abgelehnt und damit war die Schlichtung gescheitert.
Die Politik erkennt langsam das Desaster
Seit 2024 wissen wir, dass die Kosten 12 Milliarden Euro übersteigen werden, die Fertigstellung später als 2025 liegen wird, die anvisierte Leistungsfähigkeit des neuen Stuttgarter Bahnhofs nach wie vor stark bezweifelt wird und selbst die komplette Entfernung der alten Gleise nicht mehr sicher ist. Damit wird die angestrebte Neubebauung der Gleisflächen mit Wohnungen vielleicht nicht möglich sein. Die Politik hat inzwischen panische Angst bekommen.
Jochen Lorenz
Als Mediator aus Leidenschaft und Überzeugung habe ich meinen Schwerpunkt dort, wo es um die neue Belebung von zwischenmenschlichen Beziehungen geht. Haben Sie Interesse an Konfliktmanagement, haben Sie Fragen? Lassen Sie sich kostenfrei beraten!